„Projektion“ im Krieg

Wir haben das alle schon erlebt. Jemandem passiert ein (kleiner) Fehler, jemand übersieht Sie etwa im Straßenverkehr, nimmt Ihnen den Vorrang. Zum Glück passiert nichts. Alles geht gut. Während Sie sich aber noch schrecken und kurz durchschnaufen, fliegen Beschimpfungen und wüste Gesten Ihres Gegenübers in Ihre Richtung. Das lässt Sie verdutzt zurück, denn schließlich haben Sie ja nichts getan…

Die Psychologie nennt dieses Phänomen Projektion und beschreibt damit eine Art Abwehrmechanismus, der, wie im angeführten Beispiel, helfen kann, unangenehme Gefühle (Schuld, Fehler, Schreck, schlechtes Gewissen, etc.) loszuwerden, indem man solcherart negative Gefühle in eine andere Person projiziert.
Für meinen Fehler, für meine Schuld mache ich damit letztlich also den Anderen (mit-)verantwortlich. So wie es der Autofahrer oben in diesem Beispiel getan hat, er hat ja letztlich Sie übersehen und sollte, könnte man meinen, keinen Grund haben, deshalb Sie zu attackieren.

Rund um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine wird vielerorts versucht, diese Katastrophe und ihre Ursachen auch psychologisch zu erklären. Wie ticken die Männer, die im Moskauer Kreml diesen Krieg befohlen haben?

Eine sehr lesenswerte Erklärung aus der Sozialpsychologie gibt es hier im Spiegel: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/ukraine-wladimirs-putins-krieg-mit-einer-50-jahre-alten-psychologischen-theorie-erklaert-a-2098f9cb-6c92-4959-b072-5955ddfda749

In meiner täglichen journalistischen Arbeit rund um den Ukraine-Krieg begegne ich nun ständig vor allem russischen Aussagen, die mich an mögliche Projektionen im obigen Sinne denken lassen. An Aussagen, die vordergründig an andere gerichtet sind, aber letztlich einen selbst beschreiben.

Etwa:

„Dem ukrainischen Regime ist das Schicksal des Volkes gleichgültig!“ (Wladimir Putin, Präsident Russland, 18.03.2022)

„Die Ukraine hatte 120.000 Soldaten in Stellung gebracht, Russland musste handeln und einem ukrainischen Angriff zuvorkommen!“ (Dmitri Peskow, Kreml-Sprecher, CNN, 22.03.2022)

„Russland ist keine Bedrohung für das ukrainische Volk!“ (Sergej Lawrow, Außenminister Russland, 20.01.2022)

„Wenn man Sie jetzt mit Nachdruck überzeugen will, dass ihre Schwierigkeiten das Ergebnis feindlicher Handlungen Russlands sind, (…) dann ist das eine Lüge.“ (Wladimir Putin, Präsident Russland, 18.03.2022)

Im Sinne der Projektion würde man überlegen können: Was ich gerade anderen vorwerfe, mache ich womöglich gerade selbst oder stört mich an mir selbst… Ich weise etwaige Schuld von mir, indem ich sie anderen anlaste. Ich verweigere meine Verantwortung als Täter und positioniere mich stattdessen als Opfer, ein Opfer, das letztlich gar nicht anders handeln konnte.

Alle Gedanken rund um Projektion kann und wird weder diesen Krieg beenden, noch andere verhindern können, aber wenn es uns selbst gelingt, hier mal ein wenig nachzudenken, was wir manchmal so sagen, denken und fühlen und in weiterer Folge tun, dann wäre schon etwas Positives geschafft…

Etwa dann wenn wir (auch) mal im Straßenverkehr einen (kleinen) Fehler begehen und es uns gelingt, uns einfach zu entschuldigen, anstatt herumzubrüllen oder wild zu gestikulieren…